Der Versuch, die mit Autos überfüllte Innenstadt zu entlasten, indem Frachtgut aller Art mit Straßenbahnen und Lasträdern zu den Kunden transportiert wird, ist höchst interessant, aber nicht so neu wie man zunächst glauben möchte. Vielmehr werden in dieser Sache Erinnerungen an das Jahr 1943 geweckt, als in Frankfurt schon einmal Obst und Gemüse mit alten, ausrangierten Trams zu den Händlern geschafft wurde. Diese damals neuartige Beförderungsart war dem Krieg geschuldet, hatte aber gleichwohl einen eigenartigen Reiz.
Die Trambahn bimmelt, biegt dann vom Lokalbahnhof kommend in die Wallstraße ein, bremst mit knirschenden Rädern vor der Hausnummer 6, wo sich im Erdgeschoss der Gemüseladen Weyh befindet. Männer springen heraus und laden einige Kisten mit Weißkraut, Wirsing, Rosenkohl und zwei Kartoffelsäcke aus, stellen alles auf den Bürgersteig und setzten nach gefühlt drei Minuten die Tram in Richtung Schulstraße wieder in Bewegung. Der Händler schafft die Ware schleunigst auf die Theke; einige Frauen stehen mit Einkaufstaschen wartend vor der Tür. Schauplatz ist der Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen, man schreibt das Jahr 1943, es sind Kriegszeiten und Lebensmittel sind rar. Um die Versorgung sicherzustellen, fährt diese sonderbare Tram durch die Stadt.
Im Rückblick frage ich mich viele Jahrzehnte später, was es mit dieser ungewöhnlichen Zustellung für eine Bewandtnis hatte? Obwohl mir das Bild deutlich vor Augen schwebt, begann ich nachzuforschen. Und ich fand Antworten… Es war das Elend des Krieges, der zu diesen ungewöhnlichen Versorgungsfahrten geführt hatte. Der Transport von Gütern aller Art, besonders von lebenswichtigem Gemüse, war in vielen Großstädten schwierig geworden, weil immer mehr private Lastwagen und Transporter für die Wehrmacht requiriert wurden. Berlin und Leipzig waren die ersten Städte, die versuchten, mit ausrangierten und umgebauten Straßenbahnzügen die Versorgung der Bevölkerung einigermaßen zu sichern. Auch Frankfurt folgte dieser Idee.
An der Großmarkthalle
Ein altes Foto aus dem Institut für Stadtgeschichte, das ich aus urheberrechtlichen Gründen nicht veröffentlichen kann, zeigt Frauen und Männer, die an der Großmarkthalle Kartoffelsäcke und Kisten in die Waggons einladen. Der Triebwagen hat an Stelle der Liniennummer ein rundes Schild mit dem Buchstaben G (wohl für Güterwagen) an der Stirnseite, darunter die Bezeichnung SONDERWAGEN, und noch kleiner prangt etwas tiefer die Aufschrift G 16, was ein Hinweis auf die normale Liniennummer 16 gewesen sein dürfte.
Mir fiel auch wieder ein, damals vom Gehweg der Deutschherrn-Eisenbahnbrücke im Frankfurter Osten beim Blick auf die nahe Großmarkthalle Männer und Frauen beobachtet zu haben, die einen dunklen, etwas rustikal aussehenden Straßenbahnwagen mit Säcken beluden, offenbar gefüllt mit Kartoffeln oder Zwiebeln.
In verschiedene Stadtteile
Im „Frankfurter Adressbuch“ von 1943 wird in einem bilanzierenden Rückblick auf die „Leistungen“ der Stadtverwaltung auf eine solche »Gemüse-Straßenbahn« hingewiesen:
„Die Städtische Straßenbahn (hat) die Beförderung eines wichtigen Teils der Güter des Frankfurter Großmarktes übernommen. Gleisanlagen und Oberbau bis zur Rampe der Großmarkthalle wurden in kürzester Zeit fertiggestellt und die Straßenbahn befördert bereits mit ihren Marktzügen Gemüse und Obst in verschiedene Stadtteile.“
Jeder dieser Züge bestand aus dem Motorwagen und zwei Anhängern. Die Sitzbänke waren entfernt worden, so dass reichlich Platz für das Obst und Gemüse vorhanden war.
Die nächstgelegene Straßenbahnstrecke an der Großmarkthalle verlief zu dieser Zeit von der Haltestelle Ostbahnhof über die Riederhöfe nach Fechenheim. Um die Großmarkthalle anfahren zu können, wurde in Windeseile von der Einmündung Grusonstraße am Ostbahnhof ein Gleisabzweig samt Oberleitung direkt an die Rampe der Großmarkthalle verlegt. Mitte November 1942 nahmen zunächst drei Züge mit den Nummern 16, 27 und 28 ihre Fahrten auf. Anfangs wurde nur die Verbindung zwischen Frankfurt und Offenbach bedient, danach wurde dieser Zubringerdienst der Straßenbahn auf verschiedene Frankfurter Stadtteile und Vororte erweitert.
Pilotprojekte
Viele Jahre sind seitdem vergangen, aber die Idee mit dem Transport von Waren in der Straßenbahn ist nie ganz eingeschlafen, wurde immer wieder aufgegriffen und dann doch verworfen. Ein Durchbruch gelang nie. In Wien wurde ein Versuch, das Straßenbahnnetz für Gütertransporte zu nutzen, mangels Kundeninteresse kürzlich eingestellt. In Berlin und Dresden wurde ebenfalls mit Güterfahrten experimentiert, in Frankfurt ist ein seit Herbst 2018 laufendes Pilotprojekt 2020 beendet worden, doch nun werden erneut Versuche mit Straßenbahn-Containern und Lasträdern gestartet, um den Autoverkehr in der Innenstadt zu verringern. Man darf gespannt sein, wie die Sache ausgeht..
PINNWAND: Außer persönlichen Erinnerungen wurden als Quellen das Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, das Adressbuch 1943 sowie der Pressedienst Verkehrsgesellschaft Frankfurt benutzt.