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Literatur

Roman von Florian Illies als Sittenbild und Seifenoper

Ein Buchumschlag mit einer schlichten Jahreszahl. 1913! Was ist das? Roman, Sachbuch, Dokumentation? Eine Chronik unaufhaltsam laufender Ereignisse ein Jahr vor Beginn des Ersten Weltkrieges? Unterschiedliche Interpretationen gibt es genügend, aus meiner Sicht ist das Buch 1913 eine außergewöhnlich fesselnde literarische Reportage. Das handliche Bändchen aus dem Fischer-Verlag steht im Bücherregal neben meinem Sessel, ich greife in Musestunden danach, blättere darin, lese einige Seiten oder ein Monatskapitel: Jedes Mal bin ich gefesselt, jedes Mal nähere ich mich den Geschehnissen, lerne die Menschen besser kennen, mache neue Entdeckungen. Ein Buch, das mir 10 Jahre nach seinem Erscheinen Freude bereitet.

Der Autor Florian Illies hat für sein Buch mit dem Untertitel Der Sommer des Jahrhunderts unermüdlich recherchiert, Zeitungen und Dokumente studiert, in Archiven geforscht und Vorkommnisse sichtbar gemacht, die im Verborgenen lagen. So entstand das Sittenbild eines Jahres, das vordergründig voller Heiterkeit schien, am Horizont aber dunkle Wolken des Krieges barg. Doch die kommende kriegerische Auseinandersetzung spielt nur eine winzige Nebenrolle in diesem Stück, in dem Literaten, Musiker, Maler oder Wissenschaftler sich bewegen, als gäbe es keine Zukunft mehr. In einem Werbetext für das Buch heisst es treffend:

Prominenz beherrscht das Buch von der ersten bis zur letzten Seite. Vom 13-Jährigen Louis Armstrong, der einer Trompete in einem Erziehungsheim erste Töne entlockt, ist gleich zu Beginn die Rede, von Franz Kafka ebenso; von Arthur Schnitzler ist auf der letzten Seite zu lesen. Dazwischen tummeln sich über das Jahr hinweg Thomas und Heinrich Mann, Oskar Kokoschka, Rainer Maria Rilke, Else Lasker-Schüler, Karl Kraus, Pablo Picasso, Sigmund Freud, Marcel Proust, Gottfried Benn, Hermann Hesse, Franz Werfel, Egon Schiele, Gustav Klimt, Franz Wedekind, Albert Einstein, Albert Schweizer und andere. Liebesgeschichten und Heiratssachen machen neugierig. Eine Liason endet, eine andere beginnt. Romanzen füllen die Seiten genauso wie menschliche Zerrüttung. Kafka und seine schrecklich unerfüllte Beziehung mit der Brautgeliebten Felice Bauer aus Berlin bewegt.

Florian Illies auf der Frankfurter Buchmesse 2023. (Foto: Imago / DTS-Nachrichtenagentur)

Illies vermerkt aber auch trocken, dass 1913 Charlie Chaplin seinen ersten Filmvertrag bei Keystone erhielt und mit 150 Dollar Wochengage entlohnt wurde und in den Ford-Werken von Detroit die ersten Autos vom Fließband liefen. Wir erfahren auch von einem blutigen Amoklauf in Degerloch und Stuttgart-Mühlhausen, als ein Mann namens Wagner 14 Menschen ermordete, darunter Frau und seine vier Kinder. Albert Camus, Gerd Froebe, Marika Rökk und ein gewisser Herbert Frahm (später als Willy Brandt berühmt) wurden in 1913 geboren, ebenso Berthold Beitz, Robert Lembke und Hans Filbinger.

Der Bayerische König Otto wird von Staats wegen für irrsinnig erklärt. Der hochrangige Spion Alfred Redl erschiesst sich nach seiner Enttarnung in Wien, wo sich zur gleichen Zeit die noch völlig unbekannten Herren Hitler und Stalin aufhalten, ohne sich jedoch zu begegnen. Hitler reist noch im Herbst nach München, wo er am Vitualienmarkt selbstgemalte Postkarten verhökert, Stalin illegal nach St. Petersburg, um die Revolution vorzubereiten, wird aber entdeckt und vorerst nach Sibirien verbannt.

Juwel und Seifenoper

Was ist von 1913 zu halten? Der Filmemacher und Autor Alexander Kluge hat Illies in der „Welt“ bescheinigt, ein Jahrhundertbuch geschrieben zu haben, der britische „Observer“ sah ein Juwel von einem Buch und die „Washington Post“ entdeckte ein großes Vergnügen in einer „gelegentlich herzzerreißenden Seifenoper.“ Und ich selbst? Gerade der Kontrast zwischen den gesammelten nüchternen Fakten und der Darstellung intimer Beziehungen oder öffentlich ausgetragener zwischenmenschlicher Konflikte mit all ihren Komplikationen und Widersprüchen machen für mich den Reiz von 1913 aus: Ein befriedigendes Gefühl beim Zuklappen eines starken Buches.


PINNWAND: 1913 ist im Oktober im Fischer-Verlag erschienen und kostet im Handel 25.00 Euro. Der Autor Florian Illies, geboren 1971 in Schlitz/Hessen, ist auch als Journalist, Kunsthistoriker und Kunsthändler tätig. Weitere Bücher von ihm sind: Generation Golf (2000), Liebe in Zeiten des Hasses (2021), Zauber der Stille (2023).