Beim Aufräumen fiel mir dieser Tage ein Band mit Erzählungen von Anna Seghers aus dem Aufbau-Verlag Berlin (1968) in die Hände. Sieben Geschichten sind darin enthalten, darunter „Der Ausflug der toten Mädchen“ und „Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok“. Besondere Aufmerksamkeit verdient Der Aufstand der Fischer von St. Barbara, Erstlingswerk der im 20. Jahrhundert hoch angesehenen Autorin, deren im Exil geschriebener Roman Das siebte Kreuz über die Flucht und Verfolgung von sieben Häftlingen aus einem Konzentrationslager bei Worms vom legendären FAZ-Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki als Meisterwerk der deutschen Literatur und bedeutendster Roman über das Leben während des „Dritten Reiches“ angesehen wurde.
Im Aufstand der Fischer von St. Barbara erzählt Anna Seghers mit sprachlicher Delikatesse vom Aufbäumen armer Leute gegen die Händler und Ausbeuter, verkörpert durch die „Gesellschaft der Vereinigten Bredelschen Reedereien“. Schon in den ersten Sätzen des Buches wird über das Ergebnis des Aufruhrs in dem kleinen Fischerdorf alles gesagt: von Glanztaten ist nichts zu lesen, von Siegestaumel einer Revolte keine Spur, vielmehr die nüchterne Analyse einer bitteren Niederlage der aufmüpfigen „kleinen Leute“; begleitet von Widersprüchen und Konflikten der Inselbewohner.
Mißtrauen, Verrat Verzweiflung, aber auch Treue und Stärke brechen sich Bahn. Johann Hull, Geflüchteter von der bretonischen Küste und verfolgt von den Behörden, der Wirt Desek, der Schiffer Kedennek und der verwaiste Andreas sind die Protagonisten. Hull wird festgesetzt und an Land gebracht, wo ihm der Prozess gemacht wird; der junge Andreas auf der Flucht erschossen.
Ruhe hergestellt
Der eigens angereiste Polizeipräfekt beruhigt die Regierenden in der Hauptstadt: Die Ruhe in der Bucht sei wiederhergestellt, die Soldaten heimgekehrt, St. Barbara sehe jetzt wieder aus, wie es jeden Sommer ausgesehen habe, alles gehe seinen normalen Gang. Anna Seghers beurteilt es anders:
„Längst, nachdem die Soldaten zurückgezogen, die Fischer auf der See waren, saß der Aufstand noch auf dem weißen, sommerlich kahlen Marktplatz und dachte ruhig an die Seinigen, die er geboren, aufgezogen, gepflegt und behütet hatte für das, was für sie am besten war.“
Die Autorin erkennt: Der Aufstand ist misslungen, aber in den Köpfen der Fischer haben sich Veränderungen vollzogen. Sie werden künftig nicht mehr nur Spielball der Herrschenden sein; sie müssen wieder hinausfahren aufs Meer, schlechtere Bezahlung als vor dem Aufstand akzeptieren, ihre soziale Situation bleibt miserabel, aber ihr verändertes Bewusstsein gibt Hoffnung für die Zukunft, so ungewiss sie auch sein mag.
Anna Seghers, 1900 in Mainz als Annette (Netty) Reiling in gutbürgerlichen Verhältnissen geboren und später mit László Pierre Radványi (weiterer Name: Johann Lorenz Schmidt) verheiratet, hatte ihr Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Sinologie mit einer Dissertation über „Jude und Judentum im Werke Rembrandts“ beendet. Gleichzeitig begann sie zu schreiben.
„Die Toten auf der Insel Djal“, beruhend auf einer Sage aus dem Holländischen, sowie die Erzählung „Grubetsch“ waren 1924 und 1926 vom Feuilleton der berühmten Frankfurter Zeitung angenommen und gedruckt worden, was alleine schon von der Qualität des Geschriebenen zeugt. Seghers literarischer Durchbruch folgte 1928 mit dem Erstlingswerk über den Fischeraufstand, was ihr sogleich den Kleist-Preis einbrachte; mit einbezogen in diese Ehrung wurde ihre „Grubetsch“-Erzählung.
PINNWAND: Anna Seghers (1900-1982), deren Bücher von den Nazis verbrannt wurden, musste Deutschland im Februar 1933 verlassen. Sie emigrierte mit ihrer Familie über Frankreich nach Mexiko und kehrte 1947 nach Berlin zurück, zog später in die DDR. Von 1952 bis 1978 war sie Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR.