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Als Reporter beim letzten Motorradrennen in Schotten

Der Taufstein (773 Meter) und der Hoherodskopf (763,8 Meter) sind die beiden höchsten „Erhebungen“ im Vogelsberg, dem größten zusammenhängenden Vulkangebiet in Mitteleuropa. Ganz in der Nähe entspringt das Flüsschen Nidda, das nach rund 90 friedlichen Kilometern zwischen den Frankfurter Stadtteilen Nied und Höchst in den Main mündet. In der Nähe der Niddaquelle gingen zwischen 1925  und 1955 dreißig Jahre lange spektakuläre  Motorradrennen über die Bühne.

Als ich kürzlich die Niddaquelle aufsuchte und vom nahe gelegenen Parkplatz über die Landesstraße 3291 in Richtung Schotten fuhr, tauchte in der Erinnerung das Bild eines Motorradrennens auf, das just über diese Straße geführt und mich 1955 hierher geführt hatte: das Spektakel Rund um Schotten, bei dem die Elite der damaligen Zeit am Start gewesen war. Der alte Schottenring hat keine lange, aber doch eindrucksvolle Geschichte. Auf ihm waren seit 1925 Rennen ausgefahren worden, unterbrochen 1934 und 1935 durch Straßenbauarbeiten. Auch im Zweiten Weltkrieg gab es keine Rennen.

1947 begann der Sportbetrieb von Neuem. Das Rennen führte 16,08 Kilometer über normale Stadt-, Dorf- und Landstraßen, der Rundkurs verlief im Uhrzeigersinn durch Schotten und Götzen, von dort zum weitesten Punkt (Karussell) und über Rudingshain zurück zum Start- und Zielpunkt vor Schotten. Bei den ersten Wettbewerben in den Zwanziger Jahren war die Strecke in umgekehrter Richtung befahren worden.

Menschenmassen pilgerten in den Fünfziger Jahren in die verkehrsmäßig kaum erschlossene Region, begünstigt durch die beginnende Massenmotorisierung in der jungen Bundesrepublik. Als es jedoch am 11. Juni 1955 in Le Mans beim „24 Stunden-Rennen“ zu einem schweren Unglück mit 84 Toten kam, wurden viele Zeitungen, die bis dahin dem Motorsport eher unkritisch gegenüber gestanden hatten, hellhörig. Als blutjunger Reporter einer Frankfurter Zeitung wurde ich beauftragt, mir am 10. Juli das Rennen in Schotten anzusehen, und besonders dem Aspekt der Sicherheit Aufmerksamkeit zu schenken.

Sonderzug 

Um (ohne Auto) an den Veranstaltungsort zu kommen, benutzte ich einen überfüllten Sonderzug, der vom Frankfurter Südbahnhof nach Schotten tuckerte. Abfahrt war gegen 6.00 Uhr, um rechtzeitig zum Rennbeginn (9.30) an der Strecke zu sein. Was mir von der Fahrt in Erinnerung geblieben ist, war der letzte Teil der Strecke von Nidda nach Schotten. Der Zug fuhr ähnlich einer Straßenbahn über die engen Dorfstraßen von Kohden, Unter- und Ober-Schmitten, Eichelsdorf und Rainrod zum Haltepunkt Schotten. Einmal musste der Zug anhalten, weil eine neben den Gleisen stehende Kuh  in Sicherheit gebracht werden musste. 

Ein Anwohner erzählte uns während des Stopps, dass mit der Streckenstilllegung bald zu rechnen sei, weil die Fahrt der Dampflok mitten durch den Ort die Bewohner massiv gefährde. Absurd erschien mir auch, dass die Haltepunkte sich wegen der schmalen Hauptstraßen in den Dörfern nicht in der Ortsmitte, sondern außerhalb befanden. Tatsächlich las ich Ende 1959 in der Zeitung, der Personenbetrieb zwischen Nidda und Schotten sei eingestellt worden. Ein Jahr später gab es auch keinen Güterzugbetrieb mehr.

Irritationen

Was ich dann beim Rennen in Schotten erlebte, war höchst irritierend. Nahe des östlichen Ortseingangs von Schotten – dort lagen Start und Ziel – war  für Presseleute und Ehrengäste eine Tribüne errichtet worden. Also eine  sichere Sache. Doch die meisten Zuschauer, die trotz des wolkenvergangenen Himmels und nur mäßigen 20 Grad gekommen waren, standen während des Rennens zusammen mit den Einheimischen ungesichert an den Straßenrändern. An extrem gefährlichen Ecken lagen Strohballen, das war alles…

Fahrtrichtung im Uhrzeigersinn (Foto: © Lesniewski/Fotolia)

Für die Fahrer ging es im wahrsten Sinn über Stock und Stein, entlang der Straßengräben, vorbei an Begrenzungssteinen, Hausmauern und Bäumen. Die Fans hielten den Atem an, wenn die Motorräder an ihnen vorbei donnerten oder die Kurve „kratzten“. Gleichwohl kannte die Begeisterung keine Grenzen. Unter diesen bizzaren Umständen war es kein Wunder, dass ich 1955 das letzte große Ereignis dieser Art im Vogelsberg miterlebte.

Todesstürze

Das Aus für die Strecke war überfällig. Das Unglück von Le Mans gab nur den letzten Anstoß. Die Veranstalter mussten einsehen, dass solcherart Straßenrennen dem Motorsport mehr schadeten als nutzten. Schon in den Jahren zuvor war der Ruf des Schottenrings in Mitleidenschaft gezogen worden, weil zwischen 1948 und 1954 mehrere tödlichen Unfälle für Aufsehen gesorgt hatten.

1951 waren der Italiener Claudio Mastellari und der Deutsche Kurt Prätorius, Beifahrer von Fritz Hillebrand, tödlich verunglückt, ein Jahr später kam der Niederländer Lous van Rijswijk ums Leben. 1953 weigerten sich die Fahrer den angesetzten WM-Lauf wegen der Gefährlichkeit des Kurses zu bestreiten. Schließlich einigte man sich darauf, nur die beiden unteren Klassen für die WM zu werten.

Letzte Sieger 

An den Renntag selbst, der mir wegen der ganzen Umstände so unwirklich erschien, habe ich kaum noch Erinnerungen. Bei meinen Recherchen habe ich Notizen über die Sieger von damals gefunden. Demnach gewannen Horst Fügner (125 ccm), H. P. Müller (250 ccm), August Hobl (350 ccm), Walter Zeller (500 ccm) und Willi Faust/Karl Remmert (Gespanne). Fügner stammte aus der DDR und fuhr eine MZ für das Werksteam aus Zschopau. Dann wurde mit der schwarzweißen Flagge das letzte große Rennen abgewunken.

Seit über drei Jahrzehnten werden vom örtlichen Motorsport-Klub „MSC Rund um Schotten“ nostalgische Veteranen-Veranstaltungen angeboten. Bestzeiten stehen nicht mehr im Vordergrund, vielmehr geht es nur um Sollzeiten. Das soll auch an die Anfangszeit des Motorsports erinnern, die mit eben solchen Sollzeiten und Orientierungsfahrten begann, bevor die reine Schnelligkeit das Zepter übernahm.