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Autosattler arbeitet neben dicken Sauerkrautfässern

Wer von Neu-Isenburg aus mit dem Auto in die Innenstadt von Frankfurt will, muss vorbei an Sachsenhäuser Warte und Südfriedhof talwärts über die Darmstädter Landstraße bis zum Wendelsplatz und dort vorbei am alten Lokalbahnhof in Richtung Affentorplatz zur Alten Brücke fahren. Rechterhand passiert der Autofahrer dabei die Binding-Brauerei und Hausnummer 125, wo heute moderne Bürogebäude das Bild prägen. Anfang der Fünfziger Jahre war hier ein weitläufiges Gelände mit vielen Betrieben, Handwerker und Kleingewerbetreibende vor allem.

Auch die Schlosserei meines Vaters hatte hier ihr Domizil, weshalb sich so manche Erinnerung an die damalige Ausbildungszeit im Gedächtnis eingebrannt hat und beim Vorüberfahren ans Licht kommt. Gegenüber der Schlosserei befanden sich neben einer größeren Halle zwei Betriebe, die sich gut ergänzten, nämlich der Karosseriebauer Eberhardt, der vor allem mit Aufbauten für kleinere und mittlere Lastwagen sein Geld verdiente, sowie die Autolackiererei Mäuser, die wegen der Auftragslage und räumlicher Enge in die Innenstadt zog. 

Nebenan betätigte sich Fritz Schühlein als Autosattler. Er wohnte im Abtsgäßchen in Alt-Sachsenhausen und ging frühmorgens zu Fuß in die „Darmstädter“. Oft trafen wir uns unterwegs und plauderten über die Tagesereignisse oder über das, was uns in den Werkstätten erwartete. Eines Tages erzählte er mir, dass seine Wohnung und Werkstatt früher in der Mörfelder Landstraße 10 gewesen war, bei einem Bombenangriff jedoch zerstört worden war.

Schühlein hatte viel zu tun, denn fast alle Automobile aus der Kriegszeit benötigten dringend neue Sitze, meistens nähte er sie aus relativ einfachen Stoffen zusammen, doch einmal kam auch ein Kunde mit einem Opel Kapitän und orderte einen neuen Sitzbezug aus Leder. Damit hatte Schühlein früher oft gearbeitet, war aber in den Kriegsjahren ein wenig aus der Übung gekommen. So wurde der Lederauftrag zu einer Herausforderung…

Der flotte Herr Schneider

Eines Tages zog in einem freien Raum neben Schühleins Werkstatt ein neuer Mieter ein. Herr Schneider trug ein Menjou-Bärtchen über der Oberlippe und fühlte sich als Künstler. Nach eigenen Angaben hatte er auch schon Kriminalromane verfasst, die allerdings niemand gelesen hatte oder kannte. Der Krieg hatte auch Schneider, einen überaus freundlichen und hilfsbereiten Mann, aus der Bahn geworfen. Nun wollte er sich dem Siebdruck widmen, weil er Teile einer zerstörten Druckmaschine gefunden hatte. Außerdem witterte er gute Geschäfte, weil die Werbebranche nach der Währungsreform 1948 richtig Fahrt aufgenommen hatte. 

Mit altem Schrott reparierte er die lädierte Maschine und führte uns mehrmals voller Stolz die ersten Produkte vor, was ihm auch sogleich weitere Druckaufträge der handwerklichen Nachbarn einbrachte. Schneider, der zunächst immer zu Fuß gekommen war, tuckerte eines Tages mit einem allerdings schon gebrauchten Automobil auf das Gelände. Er hatte das betagte Fahrzeug preisgünstig aufgegabelt. Seine Erfolge beim Drucken von Schildern und Plakaten, und den Kauf des schnittigen Cabrios, nannte man damals auch „Wirtschaftswunder“.

Der flotte Herr Schneider hatte ein grünes Automobil. (Cartoon: iStock/ Ken Benner)

Außer der Siebdruckerei von Herrn Schneider gab es in einer Ecke auch die kleine Akzidenzdruckerei Maus, die eine Postille namens Sachsenhäuser Warte  herstellte und (vollgestopft mit Inseraten) in die Briefkästen im Stadtteil steckte. Das kleinformatige Produkt war ein früher Vorläufer der heute üblichen kostenlosen Anzeigenblätter. 

Das Grundstück Darmstädter Landstraße 125 bot zugleich die Möglichkeit, den parallell liegenden Hainerweg zu Fuß zu erreichen. Dieser Ausgang trug die Hausnummern 50-54, war aber nicht bebaut. Im Haus 46-48 des Hainerweges regierte Direktor Heinrich Nöll die Löwenbrauerei, die helles und dunkles Lagerbier braute, aber auch das Sachsenhäuser Bergpils im Angebot hatte. Die  heute nicht mehr existierende Brauerei war als einzige in Frankfurt genossenschaftlich organisiert und beging 1946 in einem Festakt in den Harmonie-Lichtspielen ihr 40jähriges Bestehen. Auch vom Gelände der Löwenbrauerei war der Zugang zur Darmstädter Landstraße offen, die Bierkutscher nutzten oft diese Möglichkeit.

Sauerkraut-Fässer

Auf dem weitläufigen Gelände hatte außerdem die Firma Heinrich Sagerer ihren Betrieb. Dort wurde Sauerkraut hergestellt. Wenn Erntezeit war, rollten täglich Lieferwagen mit Weißkohl aus der ländlichen Umgebung in den Hof. Wenn der Kohl zu Sauerkraut geworden war, wurde das Kraut in Fässern mit Lastwagen zu den Kunden gebracht. Auch eingelegte Gurken zählten zum Angebot von Sagerer. Bald wurde die Halle zu klein, und das Unternehmen suchte sich einen neuen Standort, wie viele der anderen Firmen auch.