Ein Tagesausflug mit einer größeren Gruppe von Senioren aus dem Rhein-Main-Gebiet ist geplant, also scheint es ratsam, sich ein interessantes Städtchen auszusuchen. Amorbach im Odenwald vielleicht, Bad Orb im Spessart, Rüdesheim im Rheingau? Nach einigen Überlegungen fällt die Wahl auf das unterfränkisch-bayerische Miltenberg, nur Steinwürfe von den Landesgrenzen Hessen und Württemberg entfernt. Eine malerische Kleinstadt, die von Frankfurt aus auf Schnellstraßen bequem erreichbar ist: – und auch per Ausflugsschiff, was allerdings mehr Zeit erfordert. Also: Busfahrt an einem warmen, sommerlichen Tag.
Vom Parkplatz aus erreichen wir zu Fuß schnell die Altstadt und fragen uns, welche Geschichten sich hinter den Mauern der Stadt verbergen mögen. Einige Antworten und Fakten gibt die engagierte Stadtführerin. Was sie sagt, klingt trocken, ist aber für das Verstehen einer Stadt unerlässlich. Die Hanglage bot Gelegenheit zum Weinanbau, der ursprüngliche Main bot Fischern Arbeit und Brot, Handwerker betätigten sich im Holzgeschäft, Fuhrleute verdienten mit ihren Pferden, Steinmetze klopften sich reich. Gasthöfe für betuchte und weniger reiche Kaufleute gehören zu den Gewinnern der Entwicklung. Denn Miltenberg, 1237 erstmals urkundlich erwähnt, lag an Handelsstraße von Nürnberg nach Frankfurt. Eine Zollstation sorgte für Einnahmen.

Als dann Kaiser Karl IV. der Stadt 1367 auch noch das Messerecht verlieh, schien Miltenberg endgültig aufzublühen. Doch es folgten Rückschläge, wie so oft, wenn alles seine Ordnung zu haben scheint. Der Bauernkrieg von 1525 ging ohne schlimme Zerstörungen vorbei, doch 1552 gingen bei einem politischen Streit um Ländereien manche Häuser in Flammen auf. Und die günstige Verkehrslage erwies sich im Dreißigjährigen Krieg (1618-48) als Nachteil. Marodierende Truppen, Plünderungen und Seuchen beutelten Miltenberg auf das heftigste und ließ die Entwicklung – wie in anderen Gemeinden – stagnieren.
Zurück ins Heute. Die nächsten Stunden vermitteln uns einen Hauch dieser historischen Erinnerungen. Der alte Markt (auch als Schnatterloch bekannt) ist umgeben von bunten Fachwerkhäusern. Das Torwächterhäuschen ist durch einem Renaissance-Torbogen verbunden. Schönstes Gebäude ist das Hotel „Schmuckkästchen”, das auch als Centgrafenhaus bezeichnet wird. Das rote Fachwerkgebäude mit geschlossenen Erkern sowie die weiteren Schmuckstücke aus dem 16. und 17. Jahrhundert verleihen dem Ensemble Charakter, ebenso der im Renaissancestil erbaute Schnatterlochbrunnen.
In den anderen engen Gassen der Altstadt reihen sich Fachwerkhäuser aneinander, wir durchqueren das Schwarzviertel, das so heisst, weil alles so eng gebaut ist, und kaum ein Sonnenstrahl seinen Weg auf das Pflaster findet, wir besuchen die Würzburger-, Mainzer- und Zwillingstore; die St. Jakobus-Kirche reckt ihre Türme nahe des Flusses in den Himmel, die Burg – früher Zollstation und heute nur noch als Ruine erhalten – lassen wir unbehelligt.

Das Hotel „Zum Riesen” steht unverrückbar an seinem Platz und ist Ziel unzähliger Fotografen, schon deshalb, weil es als ältestes Gasthaus Deutschlands gilt. Über Jahrhunderte hinweg logierten darin außer Handelsreisenden auch Könige, Fürsten sowie weltliche und geistliche Amtsträger, darunter Kaiser Barbarossa, König Ludwig, Kaiser Karl IV. und Kaiserin Maria Theresia. Die Historie erzählt uns, dass zwei Besitzer im Zuge der Hexenverfolgungen verurteilt und hingerichtet wurden, wahrscheinlich, weil sie erfolgreich waren und neidische Konkurrenten sie denunzierten.
Das Kapitel der „Hexenverfolgungen” gehört zu den dunklen Seiten in der Geschichte Miltenbergs. Als um 1600 herum im damals zerstückelten Land dieser christlich-staatliche Terror einsetzte, war die Gegend um die Stadt stark betroffen. Missbeliebige Frauen (und Männer) wurden ohne ersichtlichen Gründe oder Beweise, oft nur, weil sie nicht in das übliche Schema passten, angeklagt, gefoltert und auf Scheiterhaufen verbrannt.
Von diesen düsteren Erinnerungen zu den Miltenberger „Staffelbrunsern“. Zur Herkunft des Namens gibt es verschiedene Erklärungen. Als wahrscheinlich gilt, dass diejenigen, die in früherer Zeit ihr Wasser am Staffelbrunnen holten, als „Staffelbrunnler“ bezeichnet wurden, was dann zu „Staffelbrunsern“ verballhornt wurde („brunsen“= „urinieren“). Diese Legende führte dazu, das im Auftrag des Fremdenverkehrsvereins 2016 vom Aschaffenburger Bildhauer Helmut Kunkel ein „Staffelbrunserbrunnen“ gestaltet wurde. Die Figuren stellen unterschiedliche Charaktere dar: der Kleine, der Große und der Angeber.

Der Tag ist schnell vorbei. Die Glieder schmerzen von Getrippel in den gepflasterten Gässchen. Auf den Bänken der Promenade ist Erholung angesagt. Der Blick fällt auf den ruhig dahinplätschernden Main, der sich bei Miltenberg in einer Schleife zwischen Spessart und Odenwald hindurchzwängt, um dann an Aschaffenburg und Frankfurt vorbei seinen Weg in den Rhein zu suchen. Frachtschiffe und weiße Ausflugsdampfer gleiten auf der großzügigen Schleife des Flusses vorbei. Der Busfahrer öffnet die Türen, winkt uns heran: Einstieg und Heimfahrt nach interessanten, aber auch ermüdenden Stunden…