Manches ist eigenartig an dieser geschichtsträchtigen Stadt, die im Italienischen Bolzano genannt wird, im deutschen Sprachraum trocken und nüchtern Bozen. Das ist sprachlich gesehen korrekt, aber in diesem Fall doch speziell, da die Stadt historisch betrachtet ziemlich zerrissen daherkommt. Bozen ist vor über 2000 Jahren als römische Militärstation am Zusammenfluss von Eisack und Etsch entstanden, wobei die Eisack zuvor noch die aus dem Sarntal herunterschiessende Talfer aufnimmt.
Jahrhundertelang haben die Mächtigen an ihr gezerrt, ihre Identität in Frage gestellt, um eigene Interessen durchzusetzen, zuletzt im hohen Maße Mussolini und Hitler, ehe nach Aufbegehren vieler Südtiroler in den Fünfziger und Sechziger Jahren, mit der errungenen Autonomie des Landes Ruhe einkehrte, begünstigt durch den aufkommenden Tourismus, dem Unruhen nur schaden konnte.

Von Bozen aus führt der jeweils amtierende Landeshauptmann die regionalen politischen Tagesgeschäfte und muss sich bei Differenzen mit der Regierung in Rom auseinandersetzen. Bozen ist aber auch Wohn-, Handels-. Touristen- und Industriestadt, strategisch interessant als Knotenpunkt an der Brenner-Passage, die von Innsbruck ins Trentino und weiter nach Süden führt. Neben der Autobahn verbindet die Bahnlinie Hamburg, Berlin, Ruhrgebiet, München (Deutschland) sowie Innsbruck (Österreich) mit Verona, Rom, Mailand und Venedig. Weil der Bahnhof fast zentral in der Innenstadt liegt, sind fußläufig viele Sehenswürdigkeiten zu erreichen.
Als ich durch die Straßen schlendere, erlebe ich eine pulsierende Stadt, die kräftig atmet und Charakter zeigt – greifbar, spürbar in vielen Momenten. Exklusive Läden und Boutiquen in den Lauben machen dezent auf sich aufmerksam, plakativer und lautstärker bietet ein Händler geröstete Kastanien an, ein Stand mit Wurstwaren und Speck lässt die Zunge schnalzen, eine kleine Bar offeriert Espresso und Cappucino samt kleiner Leckereien. Die Menschen sitzen bei schönem Wetter draußen, lassen es sich bei schmackhaftem Essen gut gehen. Der täglich geöffnete Obstmarkt ist außergewöhnlich, aber Bozen hat dem Besucher mehr zu bieten. als diese spezielle Verkaufsmeile. Bozen ist auch gefragter Messestandort.

Beim Spaziergang kreuz und quer durch enge, verwinkelte Gassen und Laubengänge, teils über Kopfsteinpflaster, passieren wir die Madonnen-Apotheke, die mit ihrer historischen Einrichtung bekannt geworden ist, und erfreuen uns auf dem Walther-Platz an Straßenkünstlern und dem Denkmal des Minnesängers Walther von der Vogelweide, hören wie beiläufig einem Stadtführer zu, der über die historische Entwicklung der Stadt referiert. Das Abbild des berühmten Minnesänger thront indessen lässig über der Geschäftigkeit der Stadt.
Wir bestaunen kunstvolle Denkmäler, Statuen und Gebäuden, darunter das barocke Palais in der Silbergasse, das Franziskaner-Kloster mit Kreuzgang, den Dom „Maria Himmelfahrt“ am Walther-Platz sowie weiteren Kirchen und alten Ansitzen. Aus einer der Kirchen hören wir leises Orgelspiel, öffnen die Pforte und in einem kühlen, dunklen Raum sitzen entrückt und versunken ein paar Menschen, lauschen den Klängen des Organisten, der offensichtlich nur zum Üben gekommen ist, aber mit seinem Spiel doch verzaubert.

Im Südtiroler Archäologiemuseum in der Museumsstraße 43 hat der berühmte Eiszeitmensch, der 1991 im Ötztal gefunden wurde und dessen Alter auf über 5000 Jahre geschätzt wird, seine letzte Ruhestätte gefunden. Viele Menschen drängeln sich hier, um die Mumienreste des „Ötzi“ – durchaus mit leisem Schaudern und plötzlichem Flüstern – zu bestaunen.
Eine Eigenart Bozens ist, dass in vielen Läden und Restaurants nur italienisch gesprochen wird, es aber auch Geschäfte gibt, in denen Deutsch gewissermaßen „Amtssprache“ ist. Zweisprachigkeit überwiegt, jedoch, hin und wieder ist Ladinisch zu hören. Diese Sprachvielfalt weist auf die komplizierte Geschichte Bozens hin. Wo knapp über 100.000 Menschen zusammenleben – von den täglichen Gästen abgesehen –, ergibt sich unter touristischen Aspekten buntes Leben wie von selbst, soziale Probleme mit eingeschlossen. Doch wo gibt es die nicht?
PINNWAND: Die Statue Walther von der Vogelweides wurde 1889 von dem Vinschgauer Bildhauer Heinrich Natter aus weißem Laaser Marmor gefertigt und in der Mitte des Walther-Platzes aufgestellt.