Die erste Bekanntschaft mit dem Hessischen Ried war unerfreulich. Von Stechmücken auf dem Kühkopf gepeinigt, floh ich in den Fünfziger Jahren als jugerndlicher Teilnehmer einer Freizeit-Expedition mit dem Fahrrad zurück nach Frankfurt. Lange blieb mir das Erlebnis in unguter Erinnerung; ich mied die Gegend, besonders in den Sommermonaten, wenn die Zeit der Schnaken angebrochen war. Erst nach dem Umzug nach Walldorf näherte ich mich dieser Landschaft an. Bei zahlreichen Autotouren, Fahrradausflügen und Wanderungen entlang des Rheins wurde das einzigartige Terrain zu einem neuen Stück Heimat.
Eine genaue Begrenzung des Rieds gibt es nicht, es wird bei großzügiger Auslegung meist verortet zwischen Lampertheim im Süden und Rüsselsheim sowie Frankfurter Flughafen im Norden. Das schließt auch das Naturschutzgebiet Mönchbruch bei Mörfelden-Walldorf ein. Im Westen wird das Ried durch den Rhein begrenzt, im Osten von Bergstrasse und Odenwald und durchschnitten von den Autobahnen 67 und 5. Die Region, die zur Oberrheinischen Tiefebene zählt, wird von einer 2024 frisch sanierten Eisenbahn-Strecke durchquert, auf der pausenlos sowohl Fern-, Güter- und Regionalzüge verkehren.
Das Hessische Ried ist flach und wird in der Werbung wegen der zahlreichen Naturschutzgebiete als „zauberhafte Landschaft mit melancholisch anmutendem Charakter“ beschrieben. Ein Agrargebiet, angereichert mit Viehzucht. Industrie ist vorhanden, spielt aber nicht die Hauptrolle. Die bäuerliche Landwirtschaft befasst sich überwiegend mit dem Anbau von Spargel oder der Schweinezucht. Früher spielten auch Gurken- und Tabakproduktion eine Rolle, an diese Traditionen erinnern Feste in Biblis (Gurkenfest), Lampertheim (Spargelfest) und Lorsch (Tabakfest).

Fauna und Flora sind Hauptdarsteller. Wenn ich durch das Hessische Ried streife, erlebe ich die Einzigartigkeit der Pflanzen- und Tierwelt. Weißstörche dominieren die Region; sie nisten in Ortschaften auf Dächern, Schornsteinen oder Strommasten. Unzählige andere Vögel bevölkern die Region. Deshalb begegne ich in allen Jahreszeiten auf Waldwegen und Ackerpfaden Menschen zu Fuß, auf Fahrädern – oft mit Ferngläsern und Fotoapparaten ausgerüstet – oder sehe junge Leute auf Inline-Skatern dahinrollen.
Neben dem Gebiet Biedensand bei Lampertheim sind Kühkopf und Knoblochsaue bei Ried- und Stockstadt (2.400 Hektar) Naturparadiese. Das Reservat ist mit Schilfgebieten, dem Wasser und Baumbestand größtes Naturschutzgebiet in Hessen. Die in den Achtziger Jahren bewusst geschaffene Überschwemmungsfläche des Rheins bietet dem Wanderer großes Kino. Ich sehe selten gewordene Tiere und Pflanzen, darunter Flatterulmen, Sibirischen Schwertlilien, Blausterne, Zwergveilchen und Obstbäume jeder Art, dominiert von knackigen Apfelfrüchten.
Zahlreiche Tiere teilen sich den satten, aber knapp bemessenen Lebensraum. Auf Schautafeln erfahre ich vom seltenen Käfer Heldbock und von über 400 Schmetterlings- und 13 Fledermausarten. Alle scheinen sich wohl zu fühlen. Als Schutzgebiet für Vögel beherbergt die Kühkopf-Knoblochsaue über 250 unterschiedliche Arten, darunter Blaukehlchen, Fischadler, Graugänse oder Schwarzmilane.
Ein Kontrast in der Nähe von Riedstadt-Goddelau. Dort wird hochwertiges Öl gefördert, wenn auch nur in kleinen Mengen. Die Idee, in dieser Region Öl zu fördern, liegt Jahrzehnte zurück. Nahe der Gemeinden Stockstadt, Goddelau, Erfelden, Gernsheim und Crumstadt wurden in den Dreissiger Jahren kleine Vorkommen entdeckt. Wegen mangelnder Rentabilität, aber auch wegen des Zweiten Weltkrieges, wurden die Probebohrungen eingestellt.

Anfang der Fünfziger Jahre wurde die Förderung wieder aufgenomen, weil der Wiederaufbau nach dem Krieg und der zunehmende Energiebedarf in der jungen Bundesrepublik die Öl-Konzerne vor neue Herausforderungen stellte. Trotzdem wurde der Betrieb 1994 wegen Unrentabilität eingestellt. Als Industrie-Denkmal ist auf dem Kühkopf die letzte Pferdekopfpumpe aus dieser Periode zu sehen. Doch seit 2018 wird in Goddelau erneut Öl gefördert, denn ein Unternehmen aus Heidelberg erhielt nach erfolgreicher Testphase eine Fördergenehmigung für die nächsten 27 Jahre. Der Betreiber sagt selbstbewusst:
„Es ist sehr, sehr gutes Öl, vergleichbar mit dem wertvollsten, dem Brent-Öl aus der Nordsee. Für die Verbrennung in Motoren viel zu schade, aber bei der Kosmetik- und Arzneimittelindustrie sehr gefragt. Auch für die Möbelherstellung ist bestens geeignet.”
Weitere kulturelle und wirtschaftliche Aspekte über das Hessische Ried sind in diesem Bericht nur Randnotizen. Gleichwohl erwähnenswert das Kloster Lorsch (UNESCO-Welterbe), die Wallfahrtskirche Maria Einsiedel bei Gernsheim oder die Kirchen in Wolfskehlen und Groß-Gerau. Das Alte Rathaus in der Kreisstadt kann sich ebenfalls sehen lassen; an der nordwestlichen Spitze des Rieds werkelt in Rüsselsheim noch immer eine große Autoschmiede. Über Jahrzehnte hinweg wurde in Biblis Atomstrom erzeugt, ehe die Meiler 2024 gesprent wurden. Rund 50 Städte werden aus dem Südhessischen auch mit Trinkwasser versorgt. Die Stadt Frankfurt allein deckt zirka eine Drittel ihres Bedarfs aus dem Hessischen Ried. Aber das alles sind andere Geschichten…