Da liegt sie in ihrer ganzen Pracht: Die Seiser Alm in Südtirol. 56 Quadratkilometer, eine Landschaft wie aus dem Bilderbuch oberhalb von Kastelruth und Seis. In jeder Jahreszeit ein Erholungspark par excellence, egal ob Frühling, Sommer, Herbst oder Winter. Erreichbar zu Fuß, mit Fahrrad, Seilbahn oder (eingeschränkt) auch mit Motorrad oder Automobil. Diese prächtige Alm – die größte ihrer Art in Europa – wird von der Tourismusbranche mit Superlativen beworben, was nachvollziehbar ist.
„Die Seiser Alm mit ihren sanften Hügeln und blühenden Wiesen begeistert.“ (Val Gardena.com). – „Schlösser und mystische Plätze zieren die unvergessliche Landschaft.“ (Seiser Alm.it), – „Die Seiser Alm ist das Wanderparadies schlechthin.“ (Kastelruth.travel). – „Die sonnigen und windgeschützten Pisten machen die Seiser Alm einzigartig und mit keiner Skiregion in den Alpen vergleichbar!“ (Bergfex.it).
Klappern gehört zum täglichen Handwerk im Marketing. Im Falle der Seiser Alm erscheinen solche Lobgesänge allerdings gerechtfertigt, zumindest was die einzigartige Naturschönheit betrifft. Es hat schon seinen Grund, warum die Dolomiten seit 2009 zum Weltnaturerbe der UNESCO zählen
Wer vom Grödner Tal (Val Gardena) über den Panider Sattel in Richtung der Alm fährt, erreicht Kastelruth, ein hübsches Städtchen, in dem ein kleiner Bummel angebracht ist, nicht wegen der „Spatzen“, die den Ort berühmt gemacht haben, sondern wegen der schön bemalten Häuser, den engen Gassen, den gemütlichen Gaststätten und dem historischen Hauptplatz mit seinem weithin sichtbaren Kirchturm, erbaut 1733.
Ein Aussichtshügel, der zu Fuß in etwa zehn Minuten erreichbar ist, gibt den Blick frei auf die einladende Alm, deren hügelige Wiesenfläche von Bäumen und Buschgruppen unterbrochen wird. Heuhütten liegen verstreut im Almgebiet, für das leibliche Wohl gibt es Jausenstationen, Imbissbuden und andere Lokalitäten.

Die Alm ist nicht nur zum Wandern prädestiniert, obwohl das im Sommer im Vordergrund steht, denn bei meist 300 Sonnentagen im Jahr locken die blühenden Bergwiesen, auf denen knapp 800 verschiedene Blüten- und Farnpflanzen gezählt wurden. Krokusse, Anemone, Goldprimel und Alpenrose erfreuen zu unterschiedlichen Jahreszeiten das Auge des Wanderers. Fichten, Lärchen, Föhren, Tannen, Eschen und Birken beleben die Szenerie.
Im Tierreich sind Gämse, Steinadler, Alpendohlen, Kolkraben, Alpensegler, Spechte und sogar Eulen zu entdecken. Haflinger Pferde tummeln sich auf den Weiten der Alm, Kühe weiden auf saftigen Wiesen.
Dominiert wird die Seiner Alm vom Schlern, der mit 2.564 Meter Höhe kein Riese ist, gleichwohl aber als einer der symbolträchtigsten Berge der Dolomiten gilt. Die steile Felswand des Bergmassivs mit Santner- und Euringerspitze thront wie ein Wächter über den Ortschaften Kastelruth, Völs und Seis im Naturpark Schlern-Rosengarten. Doch wo viel Licht ist, gibt es viel Schatten. Wie an anderen attraktiven Orten – egal ob Landschaften oder Städten – droht durch den überbordenden Tourismus die Balance zu kippen. Als warnendes Beispiel für einen Kollaps gilt Venedig, das der Menschenmassen nur noch durch Eintrittsgelder Herr zu werden glaubt. Ein Wermutstropfen im Tourismusgeschäft.
Kritiker solcher ungebremsten Entwicklungen fürchten auch um die Naturschönheit der Seiser Alm. Zum langfristigen Schutz fordern die Bürgerinitiative „Pro Seiser Alm“, der Alpenverein Südtirol, der Pflegeverband Südtirol wirksamere Bestimmungen gegen überfüllte Wanderwege, die hohe Anzahl an Liften (von 400 „Aufstiegshilfen“ wird in der Werbung gesprochen) und die Beeinträchtigung der Natur durch Bebauung. Weniger wäre nach Ansicht von Naturschützern mehr. Ob solche Appelle helfen?

Die Frage ist, ob es auf der Seiser Alm zu viele Freizeitangebote gibt? Wer sich genauer umschaut, wird fast erschlagen von den vielfältigen Möglichkeiten der Unterhaltung. Mountainbiker und Paragleiter kommen auf ihre Kosten, Kletterer können sich austoben, sogar Golf kann gespielt werden. Im Winter sind 260 Kilometer Pisten und Loipen präpariert, eng verzahnt mit dem Skigebiet des Grödner Tals, mit dem es einen gemeinsamen Skipass zum Schneewandern und Langlaufen gibt. Eine ideale Topografie für Anfänger und nicht so Geübte gewiss, aber auch sinnvoll? Naturschutz und wirtschaftliche Interessen prallen wie so oft aufeinander. Ein Teufelskreis, wie in solchen Fällen gerne gesagt wird.
PINNWAND: Die Seiner Alm ist eine acht Kilometer lange und bis zu sieben Kilometer breite, sanft geschwungene Wiesenfläche zwischen 1680 und 2350 Metern Höhe – insgesamt etwa 56 Quadratkilometer groß – in der Nähe der Südtiroler Landeshauptstadt Bozen, eingerahmt von Lang- und Plattkofel sowie den Rosszähnen mit dem einzigartigen Schlern-Massiv.