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Zeitgeschichte

Zufluchtsorte in der Lausitz
und im Westerwald

Mai 2025: Achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges einige persönliche Anmerkungen zur Evakuierung in die Dörfer Taubenheim an der Spree und Reichenborn im Westerwald 1943/44.

Achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und den zahlreichen Berichten über die damaligen Ereignisse kehrten verstärkt Bilder aus den letzten Kriegsmonaten, der Bombenangriffe sowie der freiwilligen Flucht und der zwangsweisen Evakuierung aus dem Gedächtnis zurück. Die kleinen Dörfer Taubenheim/Spree in der Oberlausitz und Reichenborn im Westerwald spielen in den Kinder-Erinnerungen eine wichtige Rolle, denn sie wurden kurzzeitig zur neuen Heimat.

Nachdem bei der Alliierten-Operation „Gomorrha“ im Juli 1943 Hamburg nach einem Fliegerangriff mit folgendem Feuersturm in Schutt und Asche versunken war, wurden wir – wie andere Familien mit mehreren Kindern  – von örtlichen Verwaltungsbehörden aufgefordert, im Verwandtenkreis nach Möglichkeiten zu suchen, Frankfurt freiwillig zu verlassen und in weniger gefährdeten ländlichen Gebieten Unterschlupf zu finden. Tatsächlich arbeitete ein Bruder meines Vater in Taubenheim an der Spree direkt an der Grenze zu Tschechien und nahe von Bautzen. 

Fahrt in die Lausitz

Nach mehreren Telefonaten und Briefwechseln unternahm unsere Familie den Schritt der privaten Evakuierung, aber obwohl sich die Verwandten redlich bemühten, fanden wir keinen engen Kontakt; weder zu Onkel und Tante, noch zu den Dorfbewohnern oder den Lehrern der Schule. Als Kinder fühlten wir uns herausgerissen aus unserem gewohnten Umfeld, nur das Hantieren mit rostigen, ausgemusterten Loren eines stillgelegten Betriebes brachte Abwechslung.

So dauerte unser „Gastspiel“ in Taubenheim nur wenige Wochen und war schnell Geschichte. Mit Macht zog es die siebenköpfige Familie (Vater war in Frankfurt geblieben) zurück. Wir fuhren am 4. Oktober 1943 über Dresden und Leipzig im D-Zug nach Hause, ohne zu ahnen, dass just an diesem Tag die Stadt vom ersten großen Fliegerangriff getroffen worden war. Frankfurt stand in Flammen, glich einem Glutofen, Trümmerberge  flackerten rötlich, Rauch durchzog die Straßen – das Haus in dem wir wohnten, war jedoch unversehrt.

In den Westerwald

Als Frankfurt wenige Monate später – im März 1944 – in einem dreitägigem Bombardement unterging, und das Haus, in dem wir gewohnt hatten, niederbrannte, durften wir zunächst im nahen Bunker untergebracht, dann zwangsweise evakuiert. Ohne Hab und Gut wurden wir und andere Familien im Lastwagen in den Westerwald gebracht. Im kleinen Dörfchen Reichenborn, etwa 12 Kilometer von Weilburg entfernt, wurden wir nach einigem Hin und Her bei leicht „verschnupften“ Bauern einquartiert. Weil es keine Dauerlösung sein konnte, wurde auf Veranlassung der Gemeinde ein Klassenraum der Dorfschule zur Wohnung umfunktioniert; notdürftig durch Bretterwände abgeteilt.

Volksschule Reichenborn, in der wir wohnten. (Foto: Wikipedia/Oliver Albes)

Wir kampierten jetzt in einer schon im 19. Jahrhundert erbauten Schule, das Fachwerk war mit Schiefern verkleidet. Zum Unterricht in die so genannte Zwergschule  – alle Altersstufen wurden in einem Raum unterrichtet – waren nur einige Treppenstufen zu überwinden. In der Ortsmitte von Reichenborn befand sich ein Dorfladen für Bedarf des täglichen Lebens. Das einzige Wirtshaus war nur wenige Schritte entfernt, ebenso die Kirche (St. Barbara) mit Chorturm und kleinen Schiff.

Kuhmist und „Buddel“

Anders als in Taubenheim fanden wir jungen „Städter“ schnell Anschluss. Wir freundeten uns schnell mit den Kindern und Jugendlichen an, tollten mit ihnen durch den nahen Wald, erkundeten eine alte Mühle aus dem Jahr 1690 und plantschten im Vöhlerbach und einem kleinen See. Bauer Riebel, der seinen Hof neben der Schule betrieb, nahm mich mit auf die Felder, wir waren bei der Heuernte dabei, gruben Kartoffeln aus der Erde.

Oft saß ich vorne auf dem Bock des von Kühen gezogenen Karrens, um die Felder mit Kuhmist und „Buddel“ zu düngen; einmal stürzte ich vom fahrenden Traktor. Bei den Riebels gab es immer reichlich zu essen. Das herzhafte Bauernbrot, das die Frauen im Backhaus am Ende der Straße aus dem Ofen holten, hatte es mir besonders angetan.

Zurück nach Frankfurt

Dann rückten amerikanische Truppen ein, das Leben veränderte sich und normalisierte sich. Weil mein Vater als Schlossermeister dringend zum Wiederaufbau in Frankfurt gebraucht wurden, durften wir 1946 nach Frankfurt zurückkehren, obwohl der Zuzug in die zerstörte Stadt damals noch verboten war. Der Abschied aus Reichenborn fiel mir als Elfjährigem nicht leicht, doch in Frankfurt lebte ich mich schnell wieder ein, das Leben in der großen Stadt nahm Fahrt auf, die Monate in Reichenborn verblassten.

Noch zweimal war ich in Reichenborn. Einmal Ende 1947, um zu „hamstern“ (voller Erfolg!), dann in den Achtziger Jahren. Das heimelige Dorf war mir fremd geworden, es hatte sich weiter entwickelt, der  dörflichen Charakter war geblieben, aber es gab auch Neubauten, geteerte Straßen statt Schotter; Bauer Riebel lebte schon lange nicht mehr, und im Dorfladen war ich ein durchfahrender Fremder. Heute ist Reichenborn ein Ortsteil von Merenberg mit etwa 400 Einwohnern und feiert 2025 sein siebenhundertjähriges Bestehen. 

Stadt der Sonnenuhren

Und Taubenheim? Taubenheim ist ein Ortsteil der Stadt Sohland geworden und hat sich einen guten Ruf als „Dorf der Sonnenuhren“ erworben. Über 50 zieren die verschiedenen Häuser. Entstanden sind die kleinen Kunstwerke, nachdem der Dresdner Künstler Martin Hölzel Anfang der 70er Jahre den Auftrag erhalten hatte, die einzige Sonnenuhr an der Alten Schmiede zu restaurieren. Er fand die Arbeit so inspirierend, das er immer neue gestaltete.

Eine der vielen Sonnenuhren im heutigen Taubenheim. (Foto: Imagebroler/Alamy)

Jede dieser Sonnenuhren ist einzigartig und erzählt etwas über die Geschichte des Hauses. Seit dem Tod von Hölzel 1994 wird die Arbeit vom Grafiker Peter Domschke fortgeführt. Auf dem „Sonnenuhrenpfad“ kann man alle Uhren besichtigen und den inzwischen durchaus attraktiven Ort Taubenheim erkunden.


PINNWAND: Unser Autor, Jahrgang 1935, lebte 1943 als Kind für einige Wochen in Taubenheim an der Spree, und zwischen März 1944 und April 1946 in Reichenborn. Zur damaligen Situation im Westerwald-Dörfchen ist auch der Beitrag Frühling mit Lustspielfilm und Panzergrollen auf dieser Website empfehlenswert.