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Lebensecho

Als Geleedosenbefüller im Frankfurter Osthafen

Konservendosen aller Art werden heutzutage in der Regel mit vollautomatischen Maschinen befüllt. Vor einigen Jahrzehnten war das noch anders. Der junge Herr S. erlebte es in einer Fabrik, in der Zutaten für Konditoreien und Bäckereien verarbeitet wurden, darunter Gelee, Schokoladenmasse, kandierte Früchte wie Himbeeren, Kirschen und Erdbeeren. Es war eine kurze Erfahrung, die dem Berufsanfänger jedoch den Blick schärfte für Arbeitswelten, die viele Menschen ein Leben lang ertragen müssen.

Es ist Anfang Juni, Ende der Fünfziger Jahre. Herr S. hat noch drei Monate Zeit, eher er eine neue Stelle bei einem Filmverleih antritt. Wie die Zeit überbrücken? Faulenzen oder arbeiten? Er entschließt sich für einen Kurzzeitjob und findet ihn beim Stöbern im Stellenmarkt einer Zeitung und wird Geleedosenbefüller. Es ist Hochsommer, der Weg zur Arbeit führt fußläufig von Sachsenhausen über die Deutschherrnbrücke, linker Hand steht die mächtige Großmarkthalle, rechts geht es über die Eyssenstraße und Honsellbrücke, vorbei an der Schrottverwertung Trapp in eine unscheinbar wirkende Fabrik im Frankfurter Osthafen.

An der Maschine

Die Arbeit ist stupide und nach stundenlanger Arbeit (nur von kurzen Pausen unterbrochen) äusserst ermüdend. Herr S. sitzt gebückt auf einem harten Stuhl. Vor ihm eine Maschine, deren Kopfteil sich, ähnlich einer Bohrmaschine, vor seinen Augen dreht. Auf einem schmalen Laufbahn rollen leere Konservendosen heran und stoppen vor seinen Augen. 

Aus einem dünnen Rohr ergießt sich warmes, klebriges Gelee in die leere Büchse. Als sie gefüllt ist, fällt ein Deckel auf die Dose und das Drehen beginnt von Neuem. Mit einem Hebel drückt Herr S. eine rotierende Rolle an Dosenrand und Deckel. Die beiden Teile verbinden sich, der Deckel schliesst die Dose luftdicht ab, an der nächsten Station wird sie mit einem Etikett versehen und zum Versand in Kisten verpackt. Aus den mit Lastwagen angelieferten Fässern mit farblosem Gelee sind handliche Konservendosen geworden; Backpulver und kandierte Früchte werden auf die gleiche Art abgefüllt. Herr S. sieht bald Charlie Chaplin vor Augen. Genau wie dieser in Moderne Zeiten muss auch Herr S. hunderte Male die gleiche Bewegung ausüben. Tag für Tag, Woche für Woche…

Der halbautomatische Vorgang ist nicht ohne. Bei jedem Schließvorgang schleudert die rotierende Maschine nebelige Spritzer in das Gesicht von Herrn S., eine Brille soll die Augen schützen, doch klebriges, warmes Gelee dringt in Nase und Mund, die Haut ist benetzt davon, der Waschraum kann nicht alle Spuren beseitigen, vor allem nicht den Geruch der süßlichen Flüssigkeit. Herr S. empfindet dies als höchst unangenehm, dabei ist er noch nicht einmal pingelig.

Backpulver-Orgie

Nach zwei Wochen die Bitte an den Betriebsleiter, an jener Maschine arbeiten zu dürfen, an der Backpulver abgefüllt wird. Die schnelle und positive Zusage des meist eher unfreundlichen Chefs macht Herrn S.  stutzig, aber er erkennt zu spät, dass er geradewegs vom Regen in die Traufe gekommen ist. Statt des Gelees verschließt nun feinster Backpulverstaub die Poren, stäubt das Gesicht ein und dringt durch die schützende Brille, das Atmen wird zur Qual. Herr S. hält die drei Monate durch, aber er weiß jetzt, dass manche Arbeitswelten mehr als übel sind, aber er erkennt auch: Es gibt weit Schlimmeres! 

Abgesehen davon aber projezieren die wunderbar anzuschauenden „Kalorienbomben“ in Feinbäckereien, Konditoreien oder Cafés immer wieder verschwommene Bilder aus vergangene Zeiten ins Gedächtnis…