Die 53 britischen und amerikanischen Filme von Alfred Hitchcock (1899-1980) machten immer Schlagzeilen, waren sie doch meist hoch spannend, oft verstörend, gelegentlich mit britischem Humor gewürzt. In seinen Werken spiegeln sich eigene Ängste, Schuldgefühle und dunkle Obsessionen wider. Unschuldig verfolgte Menschen wecken sein Interesse. Von den Hollywood-Arbeiten wurde keine von der „Academy of Motion Pictures“ gewürdigt; am Ende seines Schaffens gab es immerhin einen Ehren-Oscar.
Als Hitchcocks Vater 1914 unerwartet gestorben war, nahm der 15-jährige Alfred eine Stelle bei einer Telegrafengesellschaft an, um die Mutter finanziell unterstützen zu können. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wechselte er in die Islington-Filmstudios, wo er sich vom Laufburschen, Zeichner von Zwischentiteln für Stummfilme und Regieassistent derart in Szene setzte, dass die bereits etablierten Produzenten Michael Balcon und Eric Pommer ihm die Regie von Irrgarten der Leidenschaft (Originaltitel: The Pleasure Garden) anvertrauten.
Die Angst des Neulings
Der nun 26-Jährige nutzte die Chance, obwohl er bei den Dreharbeiten im Geiselgasteiger Atelier bei München und bei Außenaufnahmen am Comer See permanent mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Er war einerseits selbstbewusst genug, um finanziellen und organisatorische Probleme zu meistern, aber extrem nervös, fast unsicher, was seine eigentliche Arbeit betraf. Wie er später erzählte, hatte er Angst, der Hauptdarstellerin Virginia Valli Regieanweisungen zu geben: „Ich weiß nicht, wie oft ich meine künftige Ehefrau (Regieassistentin Alma Reville) gefragt habe, ob ich das Richtige tue.“ Er muss es wohl richtig gemacht haben, denn nach der englischen Premiere des Films in London titelte der „Daily Express“: „Junger Mann mit dem Genie eines Meisters.“
Auch wenn Irrgarten der Leidenschaft – eine melodramatische Geschichte zweier Revuemädchen nach einem Roman von Oliver Sandys – von der Erzählweise kein typischer Hitchcock späterer Jahre war, tauchten schon Themen wie Voyeurismus und Mord auf. Mit neuen visuellen Einfällen setzte er Akzente, was ihn weitere Regieaufträge bescherte. Rückblickend lässt sich sagen, dass der (deutsche) Titel seines ersten Films fast vorausschauend wie eine filmische Lebensbeschreibung des Regisseurs erscheint, zumindest was die Leidenschaft betrifft.
Der Begriff Suspense
Hitchcock machte nach Irrgarten der Leidenschaft weitere 52 Kinofilme. Sein letzter war 1976 die thrillerhafte Gaunerkomödie Familiengrab, in der noch einmal besondere Spannungselemente eine Rolle spielten: der Begriff „Suspense“. Laut „Filmlexikon“ ist Suspense eine Erzähltechnik, um Spannung aufzubauen, indem das Publikum ein bevorstehendes Ereignis – anders als der nichts ahnende Protagonist – durch einen Wissensvorsprung bereits sehen kann, bevor es eingetreten ist. Der französische Regisseur François Truffaut hat in dem als Buch erschienenen Interview „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ nach dem Begriff Suspense gefragt. Hitchcocks Interpretation:
„Wenn eine versteckte Bombe unter einem Tisch, an dem mehrere Leute frühstücken, explodiert, ist dies ein Schreck und unterhält 20 Sekunden lang; wenn der Zuschauer die Lunte jedoch lange brennen sieht und die Figuren nichts davon ahnen, ist dies Suspense und fesselt fünf oder zehn Minuten lang. Der Einsatz filmischer Mittel und die Kosten bleiben bei besserem Effekt gleich.“
Obwohl Hitchcock gesundheitlich angeschlagen war, ist seine Handschrift in dem Handlungswirrwarr von Familiengrab stets spürbar. Es gibt wechselnde oder nur vorgetäuschte Identitäten, ironisch präsentiert mit hintersinnigem Humor, wobei sich zwei Betrüger-Pärchen mehrmals in die Quere kommen.
Das Publikum mitnehmen
Zum Thema „Suspense“ – vor Jahrzehnten eine Besonderheit und heute in jedem drittklassigen Kriminalfilm eingesetzt – redet der Regisseur in Familiengrab noch einmal Klartext. Ein Bösewicht macht sich am Auto eines der Paare zu schaffen, und als nach der Abfahrt Bremsflüssigkeit auf die Straße rinnt, erkennt das Publikum schlagartig, dass der Wagen manipuliert worden ist; das Paar ist indessen ahnungslos, weiß nicht, was gerade mit ihm geschieht, und rast unkontrolliert auf einer Bergstraße talwärts. Spannende Minuten. Suspense wie aus dem Bilderbuch.
Alle Hitchcock-Filme
1925-1939: Irrgarten der Leidenschaft (1925), Der Bergadler (1926), Der Mieter (1927), Abwärts (1927), Leichtlebig (1927), Der Weltmeister (1927), The Farmer’s Wife (1928), Champagner (1928), Der Mann von der Insel Man (1929), Erpressung (1929), Juno and the Paycock (1930), Mord – Sir John greift ein/Mary (1930/31), Bis aufs Messer (1931), Endlich sind wir reich (1931), Nummer Siebzehn (1932), Walzes from Vienna (1934), Der Mann, der zu viel wusste (1934), Die 39 Stufen (1935), Geheimagent (1936), Sabotage (1936), Jung und unschuldig (1937), Eine Dame verschwindet (1938), Riff-Piraten (1939).
1940-1949: Rebecca (1940), Der Auslandskorrespondent (1940), Mr. und Mrs. Smith (1941), Verdacht (1941), Saboteure (1942), Im Schatten des Zweifels (1943), Das Rettungsboot (1944), Ich kämpfe um dich (1945), Berüchtigt/Weißes Gift (1946), Der Fall Paradin (1947), Cocktail für eine Leiche (1948), Sklavin des Herzens (1949).
1950-1976: Die rote Lola (1950), Der Fremde im Zug/Verschwörung im Nordexpress (1951), Ich beichte/Zum Schweigen verurteilt (1953), Bei Anruf Mord (1954), Das Fenster zum Hof (1954), Über den Dächern von Nizza (1955), Immer Ärger mit Harry (1955), Der Mann, der zu viel wusste (1956, Neuverfilmung), Der falsche Mann (1956), Vertigo – Aus dem Reich der Toten (1958), Der unsichtbare Dritte (1959), Psycho (1960), Die Vögel (1963), Marnie (1964), Der zerrissene Vorgang (1966), Topas (1969), Frenzy (1972), Familiengrab (1976).
PINNWAND: Aktualisierte Neufassung eines Berichtes von 2020 mit Informationen aus „Alfred Hitchcock“ von Donald Spoto (Ernst Kabel-Verlag); „Alfred Hitchcock“ von Paul Duncan (Taschen-Verlag); „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ (Interview mit François Truffaut).