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Gastwirt Kettinger handelt mit Oberliga-Ergebnissen

Mitte bis Ende der Vierziger Jahre gab es im südlichen Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen beim Kettinger (als Sport-Zentrale Süd firmierend)  sonntags ein volles Haus. Nach Spielschluss der Oberliga-Spiele versammelten sich die Fußballfans, um aus erster Hand die Ergebnisse des Spieltags zu erfahren. Das bürgerliche Bierlokal, in dem auch deftiges Essen zu haben war, lag im Fritschengäßchen 5, unweit des Kerns von Alt-Sachsenhausen und verband die altstädtische Elisabethenstraße mit der bürgerlich anmutenden Wallstraße.

Ab 17.00 Uhr wurden von Heinrich Kettinger auf einer Schiefertafel die Ergebnisse der Süddeutschen Fußball-Oberliga gekritzelt. Das ging nicht auf einen Schlag, Herr Kettinger musste ständig telefonieren, um  nach und nach seine Tafel zu füllen. Woher er die Resultate bezog, machte er zu einem Geheimnis, aber er hatte viele Verbindungen, heute würde man sagen, er hatte ein funktionierendes „Netzwerk“. Ich selbst schaute als Bub oft durch das Fenster oder huschte mal schnell ins Lokal, um einen Blick auf Tafel und Ergebnisse zu erhaschen.

In einer Zeit, in der es es mit der Kommunikation noch nicht gut bestellt war, und nicht alle Menschen über ein Radio verfügten (Zeitungen erschienen ohnehin erst am nächsten Morgen), wurde der Fußballfreund beim Kettinger am schnellsten mit den Resultaten bedient. Es war auch ein Handel auf Gegenseitigkeit: Bier gegen Fußball-Ergebnisse. Das Interesse war groß, war doch die Süddeutsche Oberliga erst vor kurzem ins Leben gerufen worden. Sie war ein Produkt der Nachkriegszeit und erstmals im deutschen Fußball wurde in flächenmäßig großen Gebieten gespielt. Dabei war die Bildung dieser Oberligen (Süd, Südwest, West, Nord, Berlin) ein abenteuerliches Unterfangen. Zum Beispiel in Süddeutschland…

Der Neubeginn

Das Ende des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1945, verbunden mit dem Ende der Nazi-Diktatur, hatte nach Wochen des Stillstandes im Leben der Menschen einen Neubeginn in vielen gesellschaftlichen Bereichen gebracht. Auch im Sport gab es erste Lebenszeichen. So meldete die Frankfurter Presse, ein Mitteilungsblatt der us-amerikanischen Besatzungsbehörden, am 5. Juli 1945 unter der Überschrift „Erstes Fußballspiel“: 

„Dem Fußballclub Union Niederrad und dem Sportverein Frankfurt ist die Erlaubnis erteilt worden, am Sonntag, dem 8. Juli,  um 17.00 Uhr auf dem Sportplatz der Adler-Werke in Niederrad ein Fußballspiel auszutragen. Der Platz hat ein Fassungsvermögen von 8000 bis 10 000 Personen. Der bekannte internationale Schiedsrichter Weingärtner wird das Spiel leiten. Die Veranstaltung ist das erste Fußballspiel in der amerikanischen Besetzungszone. Eintritt ist frei.“

Der Sportplatz der Adler-Werke lag an den Sandhöfer Wiesen an der Grenze zu Sachsenhausen. Nach zeitgenössischen Berichten kamen 5000 Zuschauer. Der FSV Frankfurt gewann klar mit 7:1. Das Ergebnis war von untergeordneter Bedeutung, es zählte allein, dass der Fußballbetrieb wieder ins Laufen gekommen war.

Zäsur

Dieser Neubeginn nach dem Krieg brachte eine Zäsur im deutschen Fußball. Denn es gab Männer, die erkannten, dass die Zeit der Kleinstaaterei im Fußball vorbei war und die regionalen Gau-Ligen keine Zukunft mehr hatten. Es war ohnehin eine verworrene Zeit mit zahlreichen Direktiven und Lizenzierungen von Vereinen durch die Militärregierung. Im Raum Frankfurt wurde bald wieder eifrig gekickt, aber die zwei bekanntesten Klubs (FSV und Eintracht) beteiligten sich nicht am Spielbetrieb; am 22. September 1945 hatten sie eine Vereinigung der süddeutschen Oberliga-Klubs mitbegründet. 

Die Wiege dieser neuen Oberliga stand beim VfB Stuttgart, denn der ehemalige VfB-Torhüter Ernst Schnaitmann sowie die VfB-Funktionäre Curt Müller, Fritz Walter und Gustav Sackmann betrieben die Gründung mit zielstrebiger Energie. Besonders Sackmann überzeugte viele Vereine von der Notwendigkeit einer solchen neuen Liga, die allerdings nicht nach sportlichen, sondern nach undurchsichtigen Kriterien zusammengestellt wurde. Auffällig war, dass bestimmte Städte jeweils mit zwei Klubs vertreten waren, wahrscheinlich versprachen sich die Gründer große Popularität durch die anstehenden Derbys.

Die 16 Vereine waren Schwaben und BC Augsburg, Eintracht und FSV Frankfurt, FV und Phönix Karlsruhe, Waldhof und VfR Mannheim, Bayern und 1860 München, Kickers und VfB Stuttgart, Dazu kamen der 1. FC Nürnberg und die Spvgg. Fürth (auch ein Derby) sowie die Offenbacher Kickers und der FC Schweinfurt 05.

Start der Bundesliga

Noch nicht einmal 20 Jahre hatten diese Oberligen allerdings Bestand. Anfang der 60er Jahre betrieb der Deutsche Fußball-Bund (DFB) aus sportlichen und wirtschaftlichen Erwägungen mit Vehemenz die Gründung einer überregionalen Bundesliga. Sie nahm 1963 den Spielbetrieb auf. Was daraus geworden ist, können wir alle Woche für Wochen erleben… 

Das Internet, Fernsehen mit Liveübertragungen und sogenannte Liveticker der Medien beherrschen die Szene. Gleichwohl aber bleibt eine schöne Erinnerung an die alten Zeiten, als Herr Kettinger auf seiner Schiefertafel die aktuellen Ergebnisse in seiner Wirtschaft präsentierte…

Die Existenz dieser Oberliga begünstigte die Rolle von Gaststätten, die sich dem Fußball verschrieben hatten. Erst als die Boulevardblätter Abendpost (1948) und Nachtausgabe (1949) sowie eine Expressausgabe der Zeitschrift Der neue Sport ihre Ausgaben schon am frühen Sonntagabend an den Brennpunkten Frankfurts mit lautem Verkäufergeschrei feilboten und auch der Rundfunk immer zeitnaher berichtete, verlor die Sportzentrale Kettinger nach und nach ihre Bedeutung. Ähnlich war es in anderen Stadtteilen, in denen auch solche Sportzentralen existierten.

Ergebnisse der Süddeutschen Oberliga am 1. Spieltag, 4. November 1945: 1. FC Nürnberg – Bayern München 2:1, FC Schweinfurt 05 – Spvgg. Fürth 0:0, Schwaben Augsburg – Stuttgarter Kickers 2:2, VfB Stuttgart – Karlsruher FV 3:1, VfR Mannheim – Kickers Offenbach 2:1, Phönix Karlsruhe – Eintracht Frankfurt 2:2, FSV Frankfurt – SV Waldhof Mannheim 1:1, 1860 München – BC Augsburg 2:1. Erster Meister wurde der VfB Stuttgart.