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Natur Reise

Bizarre Erdpyramiden auf dem Hochplateau Ritten

Über verschiedene Routen bin ich bei Freizeitaktivitäten auf das Hochplateau Ritten nördlich der Südtiroler Landeshauptstadt Bozen gelangt. Einmal von Bozen direkt auf kürzestem Straßenweg zum Hauptort Klobenstein, dann bei einer Rückfahrt vom Durnholzer See von Norden kommend durch das Sarntal entlang der Talfer, ein anderes Mal von der Autobahnabfahrt Klausen/Grödnertal über die Staatsstraße 12 und die steile Auffahrt nach Barbian, von dort über schmale, holprige Pfade nach Ritten, das aus vielen Orten und Fraktionen besteht.

Neben Klobenstein, Gissmann, Lengmoos, Lengstein, Mittelberg, Oberbozen, Oberinn, Signat, Unterinn und Wangen gehören Atzwang im Eisacktal und Sill bei Bozen zum Rittener Gemeindegebiet, das auf einer Höhe zwischen 800 bis 2000 Metern angesiedelt ist. Die Weiler Lichtenstern, Rappersbühl und Wolfsgruben mit dem gleichnamigen See sind ebenfalls Teil der Kommune. 

Einzelgehöfte, Hotels und Restaurants gehören zu Ritten, wie etwa das Gasthaus Bad Süß oder das Kirchlein Maria Saal, in der auf einem Wandbild die Jungfrau Maria mit einem Regenschirm zu sehen ist. Über dem 111 Quadratkilometer umfassenden Urlaubsareal thront wie ein Wächter das 2260 hohe Rittner Horn. Und das mittelalterliche Schloss Runkelstein zählt zu den kulturellen Attraktionen Südtirols. In diesem Schloss ist an den großen Wänden der umfangreichste Freskenzyklus des Mittelalters zu bewundern. 

Bewegte Geschichte

Farbige Bilder zeigen das Leben und Treiben der höfischen Gesellschaft, angefangen von Jagden über Reitturniere bis hin zum Alltäglichen. Literarische Anspielungen auf „Tristan und Isolde“, an „König Arthus“ und die „Ritter der Tafelrunde“ sind auch zu sehen. Schon ein Besuch dieses Schlosses, das auch ein Restaurant beherbergt, ist Grund genug, Ritten zu besuchen (und es ist einen gesonderten Bericht wert).

Ritten blickt auf eine bewegte Geschichte zurück und zahlreiche prähistorische Funde lassen auf eine frühe Besiedlung schließen. Im Mittelalter entdeckten wohlhabende Bürger der Stadt Bozen den Ritten als Sommerfrische. Als Etsch und Eisack noch nicht reguliert waren, und das sumpfige Gelände am Zusammenschluss der Flüsse in den heißen Sommermonaten ein Tummelplatz für Stechmücken und andere Krankheitserreger war, errichteten gut betuchte Kaufleute hoch droben auf dem Berg Sommerhäuschen und schickten ihre Familien aus der schwülheißen Handelsstadt zur Erfrischung auf das kühlere Hochplateau. 

Die Geschichtsschreibung erzählt mir, dass die Geschäftsleute von montags bis freitags in der unwirtlichen Stadt ihre Händel tätigten und zum Wochenende  selbst zum Ritten aufbrachen, was damals äusserst beschwerlich war. Erst als 1907 die Rittner Bahn und zwei Jahre später eine Seilbahn in Betrieb genommen wurden, erleichterte das den Besuch auf dem Hochplateau, worauf der Ritten nicht nur zum Sommerhort für die Bozner Händlerschaft wurde, sondern auch Urlaubsparadies für andere Erholungsuchende. 

Über 100 Jahre später ist das Gebiet total erschlossen, die Tourismusbranche hat alles im Griff. Ritten, das eine erste urkundliche Erwähnung 900 nach Beginn der Zeitrechnung unter dem Namen „Rittner Höhenrücken“ gefunden hat, darf sich neben dem guten Klima rühmen, die formschönsten Erdpyramiden Europas auf seinem Gemeindegebiet präsentieren zu können. Am Finsterbachtal, Katzenbachgraben und Gasterergraben sind die Naturdenkmäler zu besichtigen, alle nahe von Klobenstein. 

Lehm und Felsbrocken

Was sind Erdpyramiden, wie entstehen sie und was erhält sie am Leben? Das sind Fragen, die ich mir stelle, genauso wie die Touristen, die die eigenartigen Felsformationen auf Smartphones und Fotoapparaten festhalten. Die Antwort können am besten die einheimischen Experten geben. Im Tourismusbüro finde ich in einer Broschüre eine vage Erklärung. Erdpyramiden bestehen demnach aus kegelförmig aufgeschüttetem Lehm und dem darauf liegenden Felsbrocken. Entstehen können die bizzaren Formen in Böden aus späteiszeitlichem Moränenlehm. Im Detail:

Diese Böden sind in trockenem Zustand steinhart, während sie – sobald es regnet – zu einem weichen Brei werden, abrutschen und so 10 bis 15 Meter hohe Steilhänge bilden. Weitere Regenfälle waschen diese Hänge aus. Liegen allerdings im weicheren Erdmaterial Gesteinsbrocken, wird der Lehm unter diesen Felsen vor dem Regen geschützt und während das umliegende Material weiter vom Wetter abgetragen wird, wachsen die Erdpyramiden förmlich aus dem Boden heraus.“

Geologen und Marketingmenschen wissen nicht alle Fragen zu beantworten. So bleibt offen, wie lange es dauert, bis sich eine Erdpyramide gebildet hat. Unklar ist auch, wie alt ein solches Gebilde ist (oder werden kann). Geschätzt wird, dass Pyramiden sich in einem Zeitraum von Tausenden Jahren bilden, fest steht allerdings auch, dass sie nicht für die Ewigkeit gemacht sind. Alle sind in Bewegung, alle unterliegen dem Fluss der Zeit. In der Broschüre steht: 

Schnell vorbei ist es mit einer Erdpyramide, wenn der Deckstein erst einmal von der Spitze der Pyramide fällt: Das Material ist dadurch schutzlos dem Regen ausgesetzt und die Säule wird bei jedem Regen kleiner. Und während durch diesen Vorgang die eine Erdpyramide verschwindet, entsteht weiter oben am Hang schon die nächste.“

»Beschirmte« Erdpyramiden auf dem Ritten. (Foto: Oliver Stör)

Die Erdpyramiden sind das eine, die Landschaft selbst das andere. Der Besucher kann den Ritten geniessen, indem er entweder mit dem Auto direkt nach Klobenstein fährt oder mit der Seilbahn in 12 Minuten von Bozen nach Oberbozen gondelt, wo eine Umsteigemöglichkeit in die historische Schmalspurbahn besteht. In Klobenstein angekommen, sind die Erdpyramiden nur noch wenige Minuten entfernt, verlockend aber ist das ganze Plateau.

Ich sehe im Sonnenlicht üppige Bergwiesen vor mir, wandere gemächlich auf einem schattigem Weg unter Laub- und Lärchenbäumen dahin, passiere eine kleine Kirche, kehre in ein Lokal ein, um Kastanientorte zu probieren. Und unterwegs bescheren malerische Winkel in kleinen Dörfern unvergesslich schöne Momente.