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Hollywoodkino

Barbara Stanwyck lebt im Film noch 105 Minuten

Egal wie der Filmfreund zum alten Hollywood und seinen teils krassen Knebelverträgen steht, in den goldenen Dreissiger und Vierziger Jahren wurden in der Traumfabrik unzählige Weltstars geboren. Eine dieser Ikonen war Barbara Stanwyck (1907-1990), deren darstellerischen Fähigkeiten ich immer in guter Erinnerung behalten habe. Besonders gefallen haben mir der Western-Klassiker Die Frau gehört mir (mit Joel McCrea), die Komödie Die Falschspielerin (zusammen mit Henry Fonda), in dem sie als Betrügerin reiche Leute über den Tisch zieht, sich aber in den Fallstricken der Liebe verfängt, sowie der mörderische Kriminalreißer Die Frau ohne Gewissen (Partner: Fred McMurray, Regie: Billy Wilder). Dem deutsch-französischen Kulturkanal „arte“ habe ich es zu verdanken, dass ich im Februar 2021 auch den eindrucksvollen Thriller Du lebst noch 105 Minuten wieder einmal zu sehen bekam. 

Um was geht es in diesem düsteren Film, was macht ihn so außergewöhnlich? Er wirft Fragen auf und gibt Antworten. Das Mordkomplott ist nur Anlass, um eine beklemmende psychologische Studie verzweifelter Menschen im nächtlichen New York zu zeichnen. Die Erniedrigung eines einfachen Mannes mit einer hysterischen und reichen Frau, sein Bestreben, sich zuerst von ihr auf normale Weise zu lösen, ohne sich jedoch gegen sie und gegen sich selbst durchsetzen zu können, sein Abgleiten in den Sumpf des Verbrechens als letztem Ausweg.

Unter diesen Umständen nimmt das Drama seinen Lauf. Die neurotische und zudem gehbehinderte Leona Stevenson (Stanwyck) liegt krank im Bett, sie ist allein in ihrem luxuriösem Haus, sie versucht ihren Mann telefonisch im Büro zu erreichen. Sie vernimmt nur ein Knacken in der Leitung, unbekannte Männerstimmen besprechen einen Mordplan an einer einsamen Frau im Herzen von New York. Furcht breitet sich aus in ihr. Gleichwohl hört sie gebannt zu, noch ahnt sie nicht, dass es um sie selbst geht. Sie versucht bei der Telefongesellschaft, bei der Polizei, bei ihrem Vater, bei ihrem Arzt auf den Mordplan aufmerksam zu machen – vergeblich. In diesem Minuten erkennt sie in wachsender Verzweiflung, dass sie das Opfer sein wird… 

Falsch verbunden

Kurz vor der verabredeten Mordzeit, 23.15 Uhr, hört sie Schritte auf der Treppe, der gedungene Mörder schleicht sich heran, um die Tat auszuführen, die ihr Ehemann Henry (Burt Lancaster) in Auftrag gegeben hat. Endlich gelingt es ihr, mit ihm zu sprechen, doch es ist zu spät, die Uhr tickt unbarmherzig ihrem Ende entgegen. Henry ist hin- und her gerissen. In plötzlicher Einsicht rät er seiner Frau, am Fenster um Hilfe zu rufen… Doch sie schafft es nicht mehr. Das Gespräch bricht ab; noch einmal ruft er zurück, am Telefon aber meldet sich eine unbekannte Männerstimme: „Bedaure, falsch verbunden.“ (Im Original: „Sorry, wrong number.“). 

Weitere Filme mit Barbara Stanwyck. (© Filmverlag Unucka)

Systemkritische Untertöne begleiten den Film. Auf der einen Seite der maßlose Materialismus des Underdogs, dagegen gesetzt wird die gesellschaftliche Überheblichkeit der dominanten Frau, die ihren Reichtum als Druckmittel einsetzt. Barbara Stanwyck gelingt dabei eine herausragende darstellerische Leistung; Burt Lancaster als ihr Ehemann Henry erscheint weniger glaubhaft in seiner Rolle des gedemütigten Mannes unter dem Joch seiner Frau. Dazu ist Lancaster (wie auch seine späteren Rollen zeigen) zu durchsetzungsfähig. Das ist für mich die einzige Schwäche des Films. Allerdings stand Lancaster erst am Anfang seiner Karriere.

Daten zum Film

Du lebst noch 105 Minuten mit dem amerikanischen Originaltitel Sorry, Wrong Number ist ein Thriller der Paramount aus dem Jahr 1948. In dem 88-minütigen Film nach dem weltberühmten Hörspiel von Lucille Fletcher spielen unter der Regie von Anatole Litvak Barbara Stanwyck (als Leona Stevenson), Burt Lancaster (als ihr Mann Henry Stevenson), Wendell Corey (als ihr Arzt Dr. Alexander), Ed Begley sr. (als James Cotterell), Harold Vermilyea (als Waldo Evans), William Conrad (als Morano). Produzenten sind Hal B. Wallis und Anatole Litvak. Das Drehbuch stammt von Hörspiel-Autorin Lucille Fletcher, an der Kamera arbeitet Sol Polito. Die Musik von Franz Waxman trägt entscheidend zur Wirkung des Films bei.