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Kosmos

Eine Rakete wird planmäßig in ihre Einzelteile zerlegt

Wenn Kosmonauten oder Astronauten vom legendären Startplatz Nummer 1 (Gagarin-Rampe) im Kosmodrom von Baikonur in den  Himmel über Kasachstan aufsteigen, um die Internationale Raumstation (ISS) zu besuchen, ist das für die Öffentlichkeit ein unbeachteter Routine-Vorgang, für die Verantwortlichen der Raumfahrt dagegen ein außergewöhnliches Ereignis, wie sich eindrucksvoll auch am 11. Oktober 2018 zeigte, als Nick Hague (USA) und sein russischer Kollege Alexej Owtschinin nach einer Fehlfunktion der Rakete Sojus MS-10 notlanden mussten.

Weil mit solchen Fehlfunktionen immer gerechnet werden muss, ist die Anspannung vor und während eines Starts für die direkt Beteiligten in jeder Sekunde greifbar und nicht nur der Tatsache geschuldet, dass sich niemand bei den Kosten im Raumfahrtgeschäft Fehler erlauben darf. Denn Raumfahrt ist trotz der wissenschaftlichen Konzeption immer noch ein Abenteuer voller Unwägbarkeiten. Und ob die Triebwerke einer Rakete in Baikonur (Kasachstan), Korou (Französisch Guyana), Jiuquan (China), Wostotschny, Plessezk (beide Russland) oder dem Kennedy Space Center (USA) zünden – Starts in den Weltraum sind niemals Alltagskram, sondern Abbild höchster Ingenieurskunst.

Dabei hatte die fehl geschlagene Mission Sojus MS-10 insofern Positives, weil das perfekt arbeitende Rettungssystem die Raumfahrer sicher zur Erde zurückbrachte.  Sie landeten nordöstlich vom Startplatz Baikonur und rund 25 Kilometer von der kasachischen Stadt Dscheskasgan entfernt. Nach der Feststellung des Fehlers beim Start von Sojus MS-10 (ein defekter Sensor hatte die korrekte Abtrennung eines der vier Booster verhindert),  flogen bereits 53 Tage danach, am 3. Dezember 2018, die US-Astronautin Anne McClain, der Kanadier David Saint-Jacques und der russische Kosmonaut Oleg Kononenko zur ISS und koppelten sechs Stunden nach dem Abheben in Baikonur an die Raumstation an. Auch Owtschinin und Hague haben ihren abgebrochenen Flug nachgeholt und sind (zusammen mit der US-Amerikanerin Christina Koch) am 14. März 2019 mit Sojus MS-12 zur ISS geflogen.

Doch wegen des Unfalls vom 11. Oktober bleiben für den interessierten Laien die ingenieurtechnischen Lösungen, um eine Rakete während des Aufstiegs planmässig in ihre Einzelteile zu zerlegen, faszinierend. Die minutiös geplante „Zerstörung“ der Rakete muss im Sekundentakt perfekt funktionieren. Die kleinste Abweichung vom vorgesehenen Regime führt, wie Sojus MS-10 bestätigte, zum Scheitern der Mission.

Zehn Minuten

Um eine Nutzlast ins All zu befördern ist absolute Präzision erforderlich. Was in mühevoller Arbeit in den Produktionsstätten in Einzelsegmenten hergestellt und in den Montagehallen der Startorte mit der Nutzlast zusammengeschraubt wird, muss innerhalb von knapp zehn Minuten zuverlässig in seine einzelnen Bestandteile zerlegt werden, und sich nicht verselbstständigen. Nur dann haben die Techniker (und die Rakete) einen guten Job gemacht.

In der Startphase löst sich eine Sojus-Rakete auf (Foto: © ESA)

Am Beispiel einer russischen Sojus — mit einer solchen flog auch Alexander Gerst im Juni 2018 zum zweiten Mal zur Internationalen Raumstation (ISS) —, lässt sich ein solcher Prozess veranschaulichen, weil dieser Träger trotz des Unfalls vom 11. Oktober 2018 die erfolgreichste und meist genutzte Rakete der Welt ist. Nach dem Beenden des amerikanischen Shuttle-Programm versorgte die Sojus lange die Internationale Raumstation (ISS) nicht nur regelmäßig mit neuem Personal, sondern auch mit Frachtgütern, wobei das Vehikel dann als Progress firmiert.

Vernichtung

Die aus drei Stufen bestehende Sojus durchläuft nach Angaben der Europäischen Raumfahrtbehörde (ESA) und bezogen auf einen bemannten Start von Baikonur aus folgendes „Vernichtungsschema“: 

Erstens: Nach dem mit einer Leistung von 20 Millionen PS erfolgtem Start wird das an der Spitze der Rakete installierte Rettungssystem für die Raumfahrer nach 114 Sekunden in einer Höhe von etwa 40 Kilometern abgesprengt, da es nicht mehr benötigt wird. Sollte es im weiteren Verlauf des Fluges zu einer Havarie des Trägers kommen, wird ein anderes Landesystem für die Kosmonauten in Kraft treten: ähnlich dem bei einer normalen Rückkehr.

Zweitens: 118 Sekunden nach dem Start sind die vier am Zentralblock seitlich eingehängten Seitenblöcke (1. Stufe) ausgebrannt und werden in einer Höhe von etwa 60 Kilometern abgeworfen. Die 2. Stufe, die beim Start gleichzeitig mit diesen Boostern gezündet worden ist, arbeitet mit noch stärkerer Schubkraft weiter.

Drittens: Nach 159 Sekunden und in einer Höhe von etwa 85 Kilometern wird die nicht mehr benötigte aerodynamische Nutzlast-Verkleidung abgesprengt. Die zentrale zweite Stufe beschleunigt wegen des geringeren Gesamtgewichts jetzt noch weiter und befördert den Rest der Rakete auf 170 km Höhe. 

Viertens: Nach 288 Sekunden Flugzeit wird die dritte Stufe gezündet und die ausgebrannte zweite abgeworfen.

Fünftes: Die dritte Stufe bringt das Raumschiff auf eine Höhe von zirka 230 Kilometer und verleiht ihm eine Geschwindigkeit von 28 000 km/h. Das Paket befindet sich jetzt etwa 1600 Kilometer vom Startplatz entfernt. Die dritte Stufe wird 539 Sekunden nach dem Start vom Raumschiff getrennt, das in seine Umlaufbahn um die Erde eintritt.

In fünf Abschnitten ist die Rakete planmässig zerlegt worden, der Start des Raumschiffes (oder der anderen Nutzlast) ist damit erfolgreich verlaufen. Operation gelungen, Rakete tot. Das Prinzip eines solchen Sojus-Starts in Baikonur gilt für alle anderen Raketen und alle anderen Startplätze auch. Lediglich die technische Parameter und Zeitabläufe können  leicht voneinander abweichen, da die Aufgabenstellungen und Nutzlasten unterschiedlich sind.

Viereckige Räder

Während des Starts werden im Träger starke Kräfte freigesetzt. Die Rakete schüttelt und rüttelt, es lärmt, pfeift und donnert. Die Kosmonauten müssen enorme Vibrationen und Beschleunigungskräfte aushalten. Der russische Kosmonaut Alexej Leonow hat das einmal so beschrieben:

„Wenn man den Eindruck hat, in einem Auto mir viereckigen Rädern zu sitzen, und damit über Kopfsteinpflaster zu holpern, dann ist alles normal.“

Nach Angaben des Raketenbau-Herstellers Progress in Samara (früher Kuybischew) wurden dort seit 1957 über 1890 Träger verschiedenster Art gebaut. Fast alle beruhten auf der von Sergej Koroljow entwickelten Interkontinentalrakete R 7 (Semjorka). Aus ihr entstanden die Ableger vom Typ Sputnik, Wostok, Woschod, Molnija und Sojus. Mit rund 98 Prozent gelungener Starts gilt dabei das Sojus-Modell aller Spezifikationen als zuverlässigste Rakete weltweit. (Stand der Daten: 22. August 2019).


PINNWAND: Quellen u.a. ESA; Roscosmos; Progress Space Center Samara; Website Spacefacts; Buch „Erlebnis Weltraum“ von Kosmonaut Sigmund Jähn.